Pedigree


Shockwave-Applikation, 400 x 450 px, 2003
In Zusammenarbeit mit Rainer Mandl

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© Momentaufnahmen, Screenshots, Pedigree, 2003
Bei Pedigree denken Hundefreunde an Dosenfutter, Hundezüchter an Stammbaum und Rasse. Das Missverständnis zwischen Hunde- und Kunstkennern wäre zumindest für letztere lösbar, indem die Dose anstatt mit Rind mit Hundefleisch gefüllt und in „Pandora“ umbenannt wird: Welpen fressen väterliche Rüden, um Energie für die Paarung mit ihren Müttern zu gewinnen. Zum Glück für alle Hundeliebhaber bilden Zeichen und Codes die „Nahrung“ virtueller, elektronischer Kunst und ist Sprache das Fleisch des Digitalen.

Sprache dient der Software von Pedigree nicht zur Beschreibung eines Sachverhalts, eines Gedankens oder einer Stimmung, sie bringt vielmehr das Dargestellte selbst hervor. Sprache wird zur performativen Handlung – zum Fleisch –, die eine Erzählung auslöst: kein Gedicht, keine Prosa über etwas, sondern prozessuale Schrift. Der Text wird zur Realität der Sprache, zum organischen Gewebe, das wächst und verzehrt, gebiert und stirbt.

Dem Pedigree zugrunde liegenden Text entspringt eine generative Lyrik, bei der am Anfang zwei Punkte im Raum stehen, die sich wie in der Biologie und im Leben fortpflanzen. Der Computer simuliert eine Petrischale, die in ihrem virtuellen Nährmedium eine „antike“ Kultur züchtet: Aus der Verbindung von Laios mit Iokaste geht Ödipus hervor, der mit seiner Mutter Nachkommen zeugt. Je nach Konstellation und Berührung der durch Punktmengen repräsentierten Individuen entstehen neue Generationen, die sich weiter vermehren oder auslöschen. In jeder Generation erfüllt sich die dem mythischen Algorithmus eingeschriebene Prophetie aufs Neue, indem sich ein inzestuöses Lieben und Morden im Digitalen als wuchernde Geometrie von Linien und Punkten grafisch auf den Bildschirm zeichnet. Wie in der konkreten Poesie gehen Text und Bild eine Allianz ein, die mit Bedeutungen und räumlichen Positionierungen von Zeichen spielt. Konkrete Poesie wird im Algorithmischen zu einer diskreten Kunst, die innerhalb ihrer abzählbaren Regeln über die Grenzen der Sprache hinauswächst und zu einer prozessualen Poiesis emergiert. Das sprachliche Material wird zum Vexierbild: Texte bringen Bilder hervor, deren Codes wiederum Texte generieren – im Fall von Pedigree diagrammatische Bilder und dramatische Texte.

Mit Fortdauer des Programms steigert sich die Genese des tragischen Familienstammbaums zur Komödie, zu einem endzeitlichen, aber endlosen Überlebenskampf Malthus’schen Ausmaßes. Dem Gesetz unbegrenzter Vermehrung widerspricht bei Pedigree nicht ein populationsmathematisches Axiom, nach dem in der Natur die Nahrungsressourcen einer arithmetischen und die Individuen einer geometrischen Progression folgen, sondern ein dem Code eingeschriebener mythischer Fluch. Dieser Fluch ist für Pedigree ein Segen, denn ihm entspringt die Ironie des Programmcodes: „A character with a mixture of good and evil is more compelling than a character who is merely good. – And Oedipus is definitely not perfect.“ Darin liegt das Befreiende, das Pedigree von der Hermetik konkreter Poesie und der modernistischen Selbstbeschränkung im Umgang mit materialen Eigenschaften der Sprache unterscheidet. Zeichen ordnen sich nach einer strengen Logik und gewinnen dennoch eine prozessuale Eigenständigkeit, die ein spielerisches Schreiben und Erzählen aus der Immanenz der Sprache heraus ermöglicht. Das Narrative macht unter neuen Voraussetzungen die Selbstreferenzialität des Kunstwerks produktiv und setzt das Werk als poetischen Code frei.

(Thomas Feuerstein)



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Ausstellungen: • CODeDOCII, Ars Electronica, Linz, A 2003 • International Media Award ZKM, Karlsruhe, D 2004 • Mi2's Computer Art Exhibitions, Zagreb, HR 2003 • Runtime Art Exibition, Split, HR 2004

Festivals: • Transmediale 04, Berlin, D 2004 • Viper 04 – internationales Medienkunstfestival, Basel, Ch 2004

Wvnr: 03-002