Zandvoort


2009, PAL 4:3 (Letterbox), 13 min, Farbe, Stereo

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© Ausstellungsansicht: Passing the Past, P///AKT, Amsterdam, 2009

Der Brief





Liebe Annja,

ich schreibe dir, weil ich deine Ausstellung bei P/////AKT gesehen habe, die mir sehr gefallen hat. Zandvoort mochte ich besonders, wiewohl ich alle drei Filme prima fand. Beyond ist auch spannend. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dir als Kunsthistoriker ein paar Gedanken zu Zandvoort anvertraue.

Der Film wurde auf einem normalen Fernseher gezeigt, der auf einem Sockel stand, sodass man ein wenig nach unten blickte. Man sieht einen Strand aus ziemlicher Entfernung. Ich hab nicht genauer darüber nachgedacht, kann mir aber vorstellen, dass der Blickwinkel auf den Bildschirm dem Kamerawinkel auf den Strand entspricht – ein feines Detail. Der Ton kam über Kopfhörer. Dein Film ist ruhig, hält „einfach“ das Verstreichen der Zeit fest. Doch macht er das nicht wortgetreu, sondern im Zeitraffer. Menschen, die aus der Distanz nur kleine Strichmännchen sind, bewegen sich komisch zeichentrickartig über den Strand. Hunde flitzen wie kleine Punkte blitzschnell um sie herum. Ich weiß nicht, wie der Film genau geschnitten und bearbeitet wurde. Man erfasst das Bild nicht ganz, ist unsicher, was „real“ und was möglicherweise nachbearbeitet ist. Sicher ist nur, dass es ein paar Zeitlücken gibt, denn die Menschen lösen sich immer wieder in Luft auf, und Flut und Ebbe kommen bisweilen ganz abrupt. Die Schnitte sind dabei aber nicht hart, sondern sanfte Ein- und Ausblendungen. Sie erscheinen, als wären sie Teil dieses Strandtages. Der Ton jedoch ist nicht gerafft, man hört Brandung und Möwen. Manchmal hat man den Eindruck, als höre man die Menschen, aber das könnte auch Einbildung sein. Man steht in der Ausstellung, und innerhalb von Minuten vergeht im Video ein ganzer Tag. Dazwischen Überraschungen – ein Pferd! Kitesurfer! –, sonst nur das sporadische Kommen und Gehen der Leute.

Die ganze Arbeit ist klein, was Bildschirm, Handlung und Menschen betrifft. Beim Betrachten hatte ich kurz die Eingebung, dass sie eigentlich noch kleiner sein sollte – wie eine Briefmarke, die die ganze Welt auf fünf Quadratzentimetern zeigt. Doch später bemerkte ich, dass sie nur in dieser Größe so geheimnisvoll wirkt, während in einer noch kleineren Version alle Details verloren gingen. Wie Ameisen krabbeln die kleinen schwarzen Figuren vor einer Naturgewalt herum, dem Meer, das von ihrer hektischen Bewegung keine Notiz nimmt. In dieser Hinsicht weist dein Video einen starken Bezug auf die Kunstgeschichte auf, spielt es doch auf die vielleicht berühmteste Strandszene der modernen Kunstgeschichte des Westens an, nämlich auf Caspar David Friedrichs Mönch am Meer. In einer Reflexion über seinen Mönch hat Friedrich – gestatte mir das vollständige Zitat – Folgendes festgehalten: „Und sännest du auch vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nicht ersinnen, nicht ergründen, das unerforschliche Jenseits! Mit übermüthigem Dünkel, erwegst du der Nachwelt ein Licht zu werden, zu enträtseln der Zukunft Dunkelheit! Was heilige Ahndung nur ist, nur im Glauben gesehen und erkannt; endlich klahr zu wissen und zu Verstehn! – Tief zwar sind die Fußstapfen am öden sandigen Strandte: doch ein leiser Wind weht darüber hin, und deine Spuhr wird nicht mehr gesehen: Thörichter Mensch voll eitlem Dünkel!“ Das ist eine der ältesten bekannten Äußerungen eines Künstlers darüber, dass das „Erleben“ – das Sehen – nicht bloß ein „verwirrtes Denken“ sei, wie Descartes hundert Jahre vor Friedrich angenommen hatte. Friedrich hält fest, dass wir durch unser Schauen die Möglichkeit bekommen, Dinge zu „erfassen“, die unserer begrifflichen Vernunft verschlossen sind. Vielleicht ist es zu leichtfertig oder gar überflüssig, an diese Geschichte zu erinnern. Vielleicht ist sie so ein „falscher Freund“, wie man ihn beim Interpretieren eines Werks immer trifft. Ist der Faden zwischen dem damals jungen und melancholischen Maler aus Deutschland und Annja Krautgasser, einer österreichischen Künstlerin aus dem Jahr 2009, nicht schon gerissen? Ich fürchte, es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Man, oder besser ich, kann sie weder bejahen noch verneinen. Also muss man darüber nachdenken.

Für die Beantwortung der Frage muss man in Betracht ziehen, dass Friedrich mit seiner „Logik des Blicks“ einem Medium sehr nahe kommt, das nahe an eine „Erfindung“ herankommt, nämlich der Fotografie. „Erfindung“ unter Anführungszeichen, denn eine interessante kunsthistorische Studie von Peter Galassi weist überzeugend nach, dass die Fotografie nicht nur gleichsam aus dem Nichts erfunden wurde, sondern auch auf einer Änderung in der Logik der Malerei beruhte, die an der Wende zum 19. Jahrhundert eintrat. Das ist deswegen wichtig, weil damit deutlich wird, dass Friedrichs Argument auf ein neues Verständnis des subjektiven Erlebens im Zusammenhang mit dem Aufkommen eines neuen Mediums zielt – eines Mediums, das nach Benjamin das Versprechen des Films schon in sich trug. Wieder müssen wir vorsichtig sein, wenn wir vom ersten Hinweis auf diesen Zusammenhang gleich ins Jahr 2009 springen. Doch ebenso wenig sollten wir uns von unserer Zeitreise abbringen lassen. Denn was rückt denn die Erkenntnis, dass das Erleben eine eigene Form der Vernunft beinhaltet, so nahe an den Film? Warum kann diese eigene Logik bis zu einem gewissen Grad (in einer Interpretation beispielsweise) in die Sprache der Logik rückübersetzt werden, zugleich aber immer mit einem Fuß in einem Bereich bleiben, an den unsere sprachliche, lineare Logik nicht heranreicht? Auf diese Frage gibt es offensichtlich mehr als eine Antwort, denn nur eine wäre ein groteskes Paradox. Wir müssen begreifen, dass jedes Werk eine eigene, d. h. eine individuelle Antwort verlangt. Welche Antwort gibt uns dieses kleine Bild von Krautgasser? Welche Auffassung von Film und fotografischem Bild äußert sich hier?

Die Arbeit scheint zwischen Verspieltheit und existenzieller Bedeutung zu oszillieren. Das Bild sieht manipuliert aus, ist auch manipuliert, aber man weiß nicht genau, wie sehr. Handelt es sich einfach um Zeitraffer oder wurden hier auch andere Tricks angewandt? Wir stehen vor einem Fernseher, der uns sonst jeden Abend in den Nachrichten von unserer Welt berichtet, und wundern uns. Der Fernseher zeigt auch jetzt die Welt, aber wir sitzen nicht gemütlich auf dem Sofa, sondern wir stehen, richten unsere Körper fast wie die Kamera aus. Und dann sehen wir Bilder, die weder wahr noch falsch sind. Ein verwirrendes Spiel mit Widersprüchen? Oder sind wir gebannt von einer inneren Logik, die sich nicht sofort enthüllt, sondern nur langsam im (hoffentlich) sorgsamen Dialog mit der Arbeit?

Das Video und die erwähnten kunstgeschichtlichen Assoziationen lassen an eine andere berühmte Strandmetapher denken, nämlich an die im letzten Absatz von Les mots et les choses von Foucault. Am Ende dieses langen und schwierigen Buchs zeichnet Foucault poetisch das Bild vom „Ende der Menschheit“, die wie ein Gesicht im Sand von den Wellen hinweggespült wird. Abermals sollten wir mit diesen „bloß“ formalen Ähnlichkeiten nicht zu weit gehen, aber doch scheint es eine Verbindung zwischen Friedrichs neuer Auffassung des subjektiven Erlebens, der Fotografie, dem Film und dem ominösen „Ende der Menschheit“ zu geben. Denn wenn wir auch nicht hoffen können, Foucaults kompliziertes Argument in all seinen Details zu erfassen, deutet es doch an, dass sich die Weise, wie Menschen im Reden und Schreiben Dinge auf Worte beziehen, im Laufe der Zeit gewandelt hat ... Und in einer dieser Bezugssysteme war die Figur, die Worte mit Dingen verknüpft, „der Mensch“ oder, besser gesagt, das „Subjekt“. In diesem Bezugssystem, das, wenn nicht unser heutiges, dann uns doch sehr nahe ist, gibt es hinter den Dingen eine versteckte Kraft, ein Subjekt, das alle Erlebnisse bündelt. Hinter jedem Menschen verbirgt sich eine Biografie, hinter jedem Lebewesen auf der Welt eine Lebenskraft usw. usf. Unsere Leben werden permanent von Kräften kontrolliert, die über uns hinausgehen – von „Trieben“, „Bedürfnissen“, „den ökonomischen Gesetzen“. Unser „Wissen“, die Sprache also, mit der wir dieses Chaos verstehen, um es einzudämmen, scheitert immerzu, weil es metaphysisch scheitert – auch wenn wir fortwährend versuchen, diese Lücke zu füllen, um endlich eine Stellung zu finden, von der aus wir die Wahrheit sagen können.

Die Menschen im Film bewegen sich wie Schatten. (Plato? Nein, genug Assoziationen, hören wir auf damit!) Sie erscheinen und verschwinden auf einem Bildschirm, der nicht mehr zu tun scheint, als immerzu zu scheinen – der Licht ausstrahlt. Die Arbeit zeigt uns keinen Ausweg aus dieser Aporie des modernen Subjekts. Es gibt, so scheint es, kein „Hinaus“, nur ein „Hinein“. Die Arbeit lässt uns am Bildschirm haften, nicht durch Sensationen, sondern durch ihre kleinen Kniffe. Man könnte sagen, dass all diese kleinen Figuren und die Maschinerie um sie herum nicht die Wahrheit darstellen, sondern merkwürdigerweise die Wahrheit „sind“ – wenn man das angesichts eines kleinen Films so dramatisch ausdrücken kann. Wir sehen funktionierende Technik. Es wird nichts dargestellt, sondern es wird vorgestellt, wie ein Bild entsteht, wie es zu existieren beginnt. Nichts wird gesagt. Es gibt ein Sujet, aber das Sujet hat sich selbst zum Sujet. Das Meer ist wie die Menschengestalten bloß ein notwendiger Teil der Bildentstehung. So wie mein Text nicht mehr ist als das Kunstwerk selbst, sondern (in bescheidenem Ausmaß) Teil von ihm. Er ist Sprache, die die Arbeit erzählen will und scheitert, weil sie nie die Arbeit „sein“ kann. Dieses Scheitern ist unvermeidlich, weil es etwas ist, das die Arbeit gerade in ihrer Eigenschaft sichtbar macht, unsagbar zu sein. Aber was ist dann ein Bild? Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, zu „sagen“, was es ist. Das Bild existiert jenseits der Sprache, ist aber in unserem Erleben, wo wir weder Subjekt noch Objekt sind. Das Erleben ist nicht bloß eine Kraft wie die „Biografie“ einer Person oder das Konzept des „Lebens“ in der Biologie. Es ist eine Form des Wissens, das nichts bedeutet, sondern sich manifestiert. Und das Bild ist sein Ausdruck. Oder vielleicht sollten wir sagen, dass ein Erlebnis ein Bild ohne uns ist, obwohl es sich an der Grenze zwischen unserer Subjektivität und dem objektiven Außen ereignet. Es ist ein Bild, das seine Materialität von außerhalb von uns erlangt, ein Bild in der Welt. Oder, wenn wir dieses philosophische Spiel weitertreiben wollen: Ein Erlebnis ist ein Ort, an dem die Welt als Amalgam von Denkbarem und Undenkbarem beginnt.

Im Halbdunkel im P/////AKT stehend, denke ich das und fühle mich unabweislich Friedrichs Gedanken über den Mönch nahe: „Thörichter Mensch voll eitlem Dünkel!“ Aber da ist nicht die Melancholie von Friedrichs Mönch, sondern nur ein Lächeln. Keine Trauer wegen eines Verlusts, sondern ein sonderbar freudiges Sichverlieren.



Beste Grüße

Steven

(Steven ten Thije)



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© Videostills



[VIDEO]: Zandvoort




Ausstellungen: • ...what remains..., Andechsgalerie, Innsbruck, A 2009 • Passing the Past, P///AKT, Amsterdam, NL 2009

Wvnr: 09-009


BERÜHREN SIE NICHT DEN FLUCHTPUNKT


Fotogalerie Wien
08.04. – 03.05.2014


mit
Julie Gufler (DK), Annja Krautgasser (AT), Simona Obholzer (AT), Almut Rink (DE), Patrizia Wiesner-Ledermann (AT)

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© Fotogalerie Wien

In der Ausstellung Berühren Sie nicht den Fluchtpunkt zeigen fünf Künstlerinnen Foto- und Videoarbeiten, in denen sie Bildlandschaften erfinden, die die Wahrnehmung in eine neue Richtung lenken. Die Auseinandersetzung mit Sprache, Text, Textbildern sowie mit Bildinformationen spielt hier eine große Rolle. In ihren Arbeiten zwischen Realität und Fiktion setzen die Künstlerinnen (selbst)bewusst und ohne dramaturgische Höhenflüge spröde Dialoge und Sprachkonstruktionen, User-Manuals, Codes und Bildfehler ein. Es eröffnet sich eine fremde Welt, die zunächst schwer zugänglich erscheint: Hier begegnen wir schattenhaften Strandgängern, dem erodierenden Großglockner oder kryptischen Text-Bild-Landschaften. Es sind Welten, in denen andere Regeln und Zeichen gelten, die aber durch die ihnen innewohnende Poesie Assoziationen eröffnen.

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© Fotogalerie Wien

In der Ausstellung Berühren Sie nicht den Fluchtpunkt zeigen fünf Künstlerinnen Werke, in denen sie Bildlandschaften erfinden, die nur in einer ganz bestimmten Entfernung zu stehen kommen. Wie eine Fata Morgana tut sich für einen Moment jeweils eine fremde Welt auf, die aber wenig Exotisches oder Einladendes zu bieten hat, sondern den Betrachter eher von sich weist. Der Zutritt scheint auf einen ersten Blick verschlossen, hier herrschen Regeln und Zeichen, die nur bedingt verstanden werden können. Die Künstlerinnen vermerken diesen Umstand in aller Nüchternheit und ohne jede Wehmut. Aus der Distanz wird lakonisch dokumentiert, was in Erfahrung zu bringen ist.

Den verschiedenen Welten gemeinsam ist der unermüdliche Rhythmus, mit dem sie sich stetig weiter generieren: krude Dialoge, selbstbewusste Bildfehler, sterile Ellipsen oder schattenhafte Strandgänger werden ohne dramaturgischen Eifer abgespult. Die Künstlerinnen mögen diese Landschaften selber erfunden haben und treten doch einen Schritt zurück, verweisen auf eine Art fiktiven Phantomautor, der hinter all dem zu stecken scheint und
dem sie selber nicht ganz trauen.

Bei den Betrachtern kann sich ein Gefühl ergeben, vielleicht auch schon einmal, halb gedankenverloren, aus vorüberziehenden Fragmenten der Umgebung und durch seltsame Verkettungen dieser Sprengsel, im Geist eine fremde Welt zu sehen, die keinen Sinn ergibt und die doch lebendig und trotzig vor sich hin existiert. Die gleiche Logik ist den gezeigten Werken zu eigen, ihnen gemeinsam ist auch der Mut, mit dem die Künstlerinnen das Krude und Spröde stehen lassen können.
(Julian Tapprich)